#14 These days*

 

Ich muss etwa sechzehn gewesen sein, damals...

 

Ich wusste nicht woran es lag und ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Ich wusste nur eins: Ich hielt es nicht aus. Ich machte irgendetwas falsch, etwas wichtiges und so bestand mein Leben aus Mobbing und Angst in der Schule - und aus Schweigen und Erwartungsdruck zu Hause.

 

Zu Hause hatte ich Angst vor der Schule. Von der Schule wollte ich nicht nach Hause. Eigentlich wollte ich nirgendwo sein.

 

Irgendetwas lief ganz furchtbar falsch und wen immer ich fragte, ich hörte immer nur das selbe: Ich möge mich fragen, was ich wolle. Und wenn ich das herausgefunden habe, solle ich dafür eintreten. Und DAS tun. Man werde mir helfen, versprochen. Eigentlich ganz einfach, oder?

 

Ja... ganz einfach...

 

 

 

Es war nur... Ich hatte bereits herausgefunden, was ich wollte und dieses "etwas" war eigentlich auch sehr einfach: ICH wollte nicht mehr leben.

 

 

Ich wollte nicht mehr leben, jedenfalls SO nicht und ich hatte keine Idee und keine Lösung, das einzige was ich wusste, war, dass ich meiner Mutter keinen Suizidversuch antun konnte. Sie hätte es nicht ertragen, ich hätte sie mit mir in den Abgrund gerissen... Es ging nicht, ich durfte es nicht.

 

Sterben war demnach raus und ich stand ratlos vor der Frage, was ich TUN sollte - und dem Wissen, dass gerade alles schieflief.

 

Richtig, fürchterlich und unwiederbringlich schief... aber was TUN?

 

Ein Teufelskreis.

 

Ich steckte in jener Situation wirklich ekelhaft fest und so finde ich es im Nachhinein nicht überraschend, dass ich als Teenager mit Wutausbrüchen zu kämpfen hatte. Ich wurde WÜTEND, so WÜTEND!!! Die Menschen sollten mich alle in Ruhe lassen, sollten die Welt verändern, sie sollten... sollten... Ach, ich wusste nicht WAS sie tun sollten, ein Wunder sollten sie herbeischaffen, mich retten sollten sie... Retten vor dem Leben, das mir nicht gefiel, vor der Welt, die mich nicht mochte, vor dem Schicksal, das anscheinend beschlossen hatte, dass mein Leben ein Alptraum werden sollte.

Entweder DAS oder sie sollten mich sterben lassen, anstatt nur "So darfst Du nicht reden" oder "Du musst positiv denken" zu sagen und mich allein zu lassen - allein mit dem Leben, das gegen mich war.

 

Die Menschen taten es nicht - natürlich taten sie es nicht, was hätten sie auch tun sollen?

 

Und so war ich einsam und verzweifelt. Und so wurde ich wütend, so WÜTEND!!! Und da ich nicht sagen durfte, was das PROBLEM war (nämlich, dass ich das Leben unerträglich fand und lieber gestorben wäre) galt ich als verstockt und schwierig. Aber das war sicher nur die Pubertät... nur Geduld...

 

 

 

Die Geschichte, die ich heute erzählen will, handelt von einem dieser Tage, von einer dieser Streitigkeiten. Ich weiß nicht mehr, worum wir stritten, weiß nur noch, wie ich die Tür zu meinem Zimmer mit Gewalt zuknallte und wie - mit einem lauten Krach - die Glastür in tausend Scherben ging.

 

*Krach*

 

Ich weiß kaum, wie ich beschreiben soll, wie es sich angefühlt hat. Jetzt war es also passiert. Ich hatte etwas zerstört. Etwas teures. Ich konnte die Scheibe von meinem Taschengeld ersetzen, DAS war mir ganz egal. Aber DAS war ja nicht das Problem. Das PROBLEM war etwas anderes:

Ich wollte so nicht sein. Ich war eine jähzornige Sechzehnjährige und wenn ich so weiter machte, würde man dazu bald "gewalttätig" sagen. Ich WOLLTE nicht diejenige sein, die die Dinge zerstörte, für die meine Eltern so hart arbeiteten, ich wollte keine Gewalt ausüben, wollte es nicht. Sowas durfte nicht mehr vorkommen.

 

Nie wieder.

 

Ich schloss mich im Badezimmer ein und grübelte.

 

Es war ja nicht so, dass ich diese Wutausbrüche bekam, weil ich sie so LUSTIG fand. Ich bekam sie, weil es verboten war über meine psychische Verfassung zu sprechen und ich gelegentlich irgendwo Dampf ablassen musste, wenn ich das Leben nicht mehr ertrug.  MUSSTE.

 

Wenn ich mich also nicht umbringen durfte. Wenn ich also nicht herumschreien, wenn ich also keine Türen schlagen, wenn ich also nichts mehr kaputt machen durfte, was DANN? Was gab es, das ich tun DURFTE, wenn ich so wütend und verzweifelt und wieder wütend war, dass ich das alles nicht länger ertragen konnte?

 

Und wie ich so überlegte und überlegte... da fiel es mir auf: Ich durfte nichts zerstören, was ANDERE verletzte. Damit waren mein Leben und alle meine Sachen (die meine hart arbeitenden mich liebenden Eltern bezahlt hatten und ggfs ersetzen würden) gestrichen. Denn da wären meine Eltern ja die Leidtragenden, nicht wahr?

...

Aber... was war mit MIR? Ob ich MICH verletzte oder nicht, betraf ganz allein MICH, niemanden sonst.

 

Solange es nur MICH betraf, konnte ich tun, was ich wollte...

 

 

Gedacht - gemacht. In der Folgezeit begann ich Messer und Rasierklingen mit mir herum zu tragen. Ich lief mit Schnitten in Armen und Beinen herum - wenn es besonders schlimm wurde auch mit Schnitten im Hals. Ich steckte Nadeln ins Fleisch. Ich riss mir die Arme mit den Fingernägeln auf, ich schlug mit dem Hammer zu, ich... 

 

Gleich viel besser. Keine Wutausbrüche mehr. Keine zerschlagenen Glastüren. Kein Streit, keine Moralpredigten, so konnte es bleiben... Denn jetzt war niemand mehr in einer Position mir zu sagen, ich dürfe das nicht zerstören. Denn was ich zerstörte, DAS war ganz allein meine Sache. Mein Körper ging niemanden etwas an. Ich durfte damit tun was ich wollte. Durfte ich wirklich...

 

Meine Eltern haben die Glastür damals anstandslos ersetzt. Sie haben mir das Geld nicht vom Taschengeld abgezogen, haben mir keinen Hausarrest und kein Telefonverbot gegeben. Ich bin sicher, sie fanden sich großzügig und verständnisvoll mit ihrer schwierigen Tochter.

 

Ich fand damals heraus, wieviel leichter das Leben zu ertragen war, wenn ich die Kontrolle über die Schmerzen hatte, die mir zugefügt wurden. Und dass niemand anderes das Recht hatte mir weh zu tun - das durfte nur ich...

 

Ich werde oft gefragt, was meine Eltern dazu gesagt haben? Sie müssten es doch gemerkt haben? Ja, ich denke sie haben es gemerkt. Kann es mir nicht anders vorstellen. Ich weiß, dass meine Schwester mal die aufgeschnittenen Arme bemerkt hat, als ich längs geschnitten hatte - entlang der Schlagader... - nichts.

 

Nein, sie haben nichts gesagt, haben nichts getan, aber es ist natürlich die Frage, was sie hätten tun sollen? Ich hatte längst begriffen, dass meine Mutter keine suizidale Tochter ertragen hätte - und so log ich und schwieg. Ich wäre ehr gestorben, als mit ihr zu sprechen - was irgendwie widersinnig ist - und so blieben wohl nur Tod oder Sprachlosigkeit übrig und so sprachen wir halt nicht. Es gab ja auch nichts zu sagen. Alles ging weiter wie bisher. Mit Schweigen und mit Nichtstun, wie bei uns über alles geschwiegen und nie etwas unternommen wurde. Immer. Und bei allem.

 

Es ist lange her.

 

Ich trage die eine Narbe, die ich von damals noch habe, mit Stolz. So ist es gewesen, WIRKLICH gewesen. Ich werde es nie vergessen und wenn doch, dann wird mich jene Narbe daran erinnern.

DA komme ich her.

DAS ist meine Geschichte.

Wer immer mir erzählen will, es sei alles nicht so schlimm gewesen, ich solle es vergessen, ein paar düstere Gedanken seien ganz normal in dem Alter... dem antwortet diese Narbe für mich. Ein Streifen auf meinem linken Oberarm. Zu sehen, wenn man hinsieht, zu spüren, wenn man darüber streicht. NEIN, das war NICHT normal. DOCH, es WAR schlimm. JA, so ist es gewesen. Wirklich wahr.

 

Ich brauche längst keine Wutausbrüche mehr, ich schlage keine Türen und ich zerbreche keine Scheiben. Meine Arme und Beine zeigen keine Schnitte und wer mich nicht gut kennt, der sagt "Ugin, was redest Du nur für einen Unsinn, Du bist völlig normal" ... Ich bin hart geworden, stark, unnachgiebig und furchtlos in Auseinandersetzungen. Ich habe längst gelernt zu sagen was ich denke und zu schützen was mir gehört.

 

Aber was immer ich gelernt, gelebt und geändert habe, ich habe aus meiner Jugend doch eine Lektion fürs Leben bewahrt: Dass mich niemand verletzen darf auf dieser Welt. Dass ich sterben werde, ehe ich es noch einmal zulasse, dass mir jemand weh tut.

 

Dass mich niemand verletzen darf... niemand... außer mir selbst...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

*"Don't you know that all my heros died?" (Bon Jovi - These days)