#12 Dies ist ein Gift-Traum*

Schau mich an:
Was ist denn übrig von mir?
Hör' mich an -
und heile meine Wunden...
(Diary of dreams)
Ich war gestern Abend im Konzert. Diary of Dreams, falls die jemand kennt. Mein Mann hatte spontan Karten besorgt - und plötzlich war gestern einer jener Tage, an denen es rund läuft... Ich, die ich 99% meiner Zeit in Jeans und TShirt herumlaufe, trug mal wieder ein Kleid. Und Kontaktlinsen. Makeup. Die Haare sind auch wieder lang... Und so standen wir im Gedränge und freuten uns auf die Musik... als ich sie sah:
Ganz vorn. In der ersten Reihe stand ein Rollstuhl mit einer jungen Frau. Blutjung. Mit Hut. Und unter dem Hut, sah man die Glatze.
Die Augenbrauen gemalt, die Wimpern fehlten... Chemotherapie.
Ganz offenbar.

Mein erster Reflex war es sie anzusprechen. Gehörten wir doch zusammen, ich war doch so wie sie... Und dann fiel es mir auf: Ich war NICHT wie sie. Sie war im Rollstuhl angereist, während ich für das Konzert 3 Stunden stehen würde. Sie trug die Glatze mit so viel Stolz, während meine Haare schon wieder die Schultern erreichen. Sie war krank und ich... 

*Oh* 
Ich nicht (?) 
Es war wie gesagt, einer jener Momente, in denen es rund läuft... Ich stand in der Menge, wie dutzende andere Frauen um mich herum. War wie alle anderen... Nichts verband mich mit der jungen Frau im Rollstuhl... Warum hätte ich sie ansprechen sollen? Auf "Oh Gott wie schrecklich!" Sprüche konnte sie GANZ bestimmt verzichten... und so hatte ich Ihr doch gar nichts zu sagen... 
Es war einer jener Momente, in denen es rund läuft... Ich sang und hüpfte. War Nachts um 1 Uhr nicht todmüde sondern wach und fit und so liefen wir die 5km nach Hause... in der mondhellen Nacht in wunderschöner  Kulisse am Kanal entlang. 
Wir liefen dort und die Musik echote noch in meinem Kopf, wie immer, wenn mir ein Konzert sehr gefallen hat...  "Schau mich an... Was ist denn übrig von mir..." und ich ließ die Musik und den Mond und das Wasser wirken.
Als wir nach Hause kamen war der Traum vorbei. Ich schluckte mein Tamoxifen und bereitete mich auf eine Nacht mit Schlafstörungen und Hitzewallungen vor. Der Magen hatte mir das eine Glas Rotwein verübelt und die linke Brustwarze sah ein winziges bisschen anders aus als die rechte, was - Ihr kennt das - schon für Alarmstimmung reichte... 
Und ich wusste es wieder: 
Ich bin nicht gesund. 
Es ist nicht vorbei, wird vielleicht nie vorbei sein. 
Aber an diesem Abend habe ich es zum ersten Mal gedacht... Nur für ein paar Augenblicke und nur zwischendurch und es war nur ein Traum... Aber ich habe es WIRKLICH gedacht. Dass ich nicht krank bin. Dass es vorbei ist. Geheilt... *Oh* 
Und auch wenn ich heute mit rasenden Kopfschmerzen aufgewacht bin. Auch wenn es so einfach "Mach was schönes, dann geht es Dir besser" eben nicht ist (jedenfalls nicht bei mir! - Ich kann mich zwar zwingen, Dinge zu TUN, aber nicht, mich an ihnen zu FREUEN). Auch wenn ich jetzt fix und fertig bin, so habe ich es gestern für ein paar flüchtige Momente doch geglaubt.
Die ständigen Zweifel, dass es funktionieren würde mit dem Leben und mir. Dieses Gefühl, dass mein Kopf nur noch aus dem Nebel besteht. Dass da gar keine festen Strukturen mehr SIND. Alles weg. Nichts mehr da. Ich hatte MONATELANG das Gefühl, dass der Krebs die Psyche irreparabel zerschlagen hatte. Dass es aussichtslos war. Weil ich einfach nicht mehr wollte. Wollte mich nicht mehr freuen. Wollte nicht mehr lachen. Wollte nicht mehr auf Konzerten herumhüpfen und mitsingen.
Es waren nur 2 Stunden. Aber diese zwei Stunden lang habe ich es geglaubt. Dass da was geht. Habe mitgesungen "Was ist denn übrig von mir?" - und habe es geglaubt: Es sieht aus, als sei tatsächlich noch etwas übrig...

 

 

 

* Für alle Diary of Dreams Fans: Ja, ich weiß, dass es in Wirklichkeit "Dies ist ein GiftRAUM" heißt. Natürlich weiß ich das, "GiftTRAUM" ist eine akustische Täuschung, auf die ich vor vielen vielen vielen vielen Jahren hereingefallen bin, als ich das Lied zum allerersten Mal hörte. Aber es hat sich mir eingeprägt, weil es eben so schön passen würde. Wie ein giftiger Traum. Was ist Wahrheit, was Traum? Kann man die Träume von der Wirklichkeit trennen, während man träumt? Oder während man schreibt? - Im Traumtagebuch?