#KK Meilensteine oder das Orakel von Delphi

Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Ich saß kurz nach abgeschlossener Chemotherapie bei meiner Hausärztin und fragte, wann denn nun mal endlich mal der Magen besser werde?

 

Und sie sagte, ich solle dem Magen und mir und überhaupt allem mal ein Jahr Zeit geben. 

 

Dann würden wir weitersehen.

 

Sie sagte, ich solle dankbar sein. Sie erwarte, dass mein Körper sich erholen werde. "Sie sind noch jung, da schaffen die Körper sowas."

 

Ich glaube ich starrte wie ein Auto.

 

Ich hatte gerade die längsten 24 Wochen meines Lebens hinter mich gebracht, darunter Sekunden, die eine Ewigkeit dauerten.

 

Hatte gedacht, es sei geschafft????  Dachte ich sei hier die heldenhafte Siegerin, die jetzt bei sanfter Hintergrundmusik in den Sonnenuntergang ihres Lebens einreitet? 

 

 

Und jetzt saß sie da und sagte "noch ein Jahr"??????????....                "und dann weitersehen"???????? .....               "wird der Körper schon schaffen"?????????

 

Das konnte nicht wahr sein, durfte nicht wahr sein, Sie musste sich IRREN!!!! 

 

musste!!!!

 

musste Sie ? ?  ?   ?    ?      ?

 

Es sollte doch VORBEI sein, jetzt. Ich wollte doch jubeln, feiern, reisen, studieren, Freunde einladen, schwimmen, radfahren, singen, hatte mir vorgestellt jetzt eine Party zu schmeißen, vielleicht einen Segelschein und tausend tolle Sachen zu machen, die im letzten halben Jahr gestrichen waren...  Man könnte...

 

Und jetzt saß sie da vor mir und sagte:

 

"Jetzt geben Sie dem ganzen mal noch ein Jahr .... dann sehen wir weiter..."

 

...

 

Das Jahr ist vorbei. 09.September 2016 war die letzte Infusion...

 

 

Wer von uns beiden Recht gehabt mit ihren Erwartungen fragt Ihr?

 

Beide.

 

Also, ich bin im vergangenen Jahr umgezogen, war im Urlaub, hab die Uni wieder aufgenommen und treibe regelmäßig Sport. Neulich war mal wieder Übernachtungsbesuch hier und ich habe irgendwie gerade zufällig einen Anlass genutzt wieder mit dem singen anzufangen. Und ich scheine jetzt endlich auch von den harten Magentabletten loszukommen. 

 

Klingt super, oder?

 

Tja...

 

Also, ich weiß nicht, an wievielen Tagen des vergangenen Jahres ich nicht mal aus dem Bett aufstehen mochte. Ich hatte zu nichts Lust, für nichts Energie, ich wollte nur rumsitzen und die Wände anstarren, oder mit dem Handy rumfummeln. An manchen Tagen war ich sicher, das alles sei es nicht wert gewesen, ich werde mich nie wieder freuen - worüber auch? Und ich hatte zu nichts Lust - wozu auch?  Und als mir nach wochenlangem Grübeln, was werden sollte etwas einfiel , wonach mir tatsächlich WAR, was ich wirklich tun WOLLTE, da lautete die Antwort:

 

ICH wollte WEINEN...

 

Ich danke an dieser Stelle jedem einzelnen Menschen, der nicht gefunden hat oder findet, ich solle aufhören zu jammern. Danke jedem, der nicht "Denk positiv!!!" gesagt hat. Grüße jeden, der sich verstanden fühlt, wenn das mal jemand sagt. Ich weiß nicht, was ich ohne Euch täte, ich weiß nur eins: Ich habe weder Lust noch Kraft noch sehe ich irgendeinen Sinn darin ein tapferes Lächeln spazieren zu tragen und "Es geht schon" zu säuseln. Das habe ich in der Chemo getan und es hat funktioniert, aber die Chemo ist vorbei.

Ich habe die Tapferkeit und die Durchhalteparolen satt, will das alles nicht mehr und wenn ich keinen GRUND sehe aus dem Bett aufzustehen, dann bleibe ich eben LIEGEN.

 

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass viele Krebsberichte die im Internet unter dem Vorzeichen des Informationsaustauschs und der Durchhalteparolen stehen AUCH ein Ort der Blitzlichtgewitter und  des Schaulaufens geworden sind.

 

Wer hat die coolsten Chemoprojekte?

Wer hält am toughsten durch?

Wer sieht am gesündesten aus?

Wer hat die tapfersten Sprüche?

Wer steckt das Ganze am besten weg?

Wer ist am informiertesten?

Wer...

 

Und ich will das alles gar nicht bewerten, ich meine - bitte. Warum sollen wir keine Misswahlen veranstalten?  Könnte doch witzig sein? 

 

Aber wählen wir doch weiter. Ich bewerbe mich für Miss Ebenmäßige-Kopfform, es ist mein Lieblingskompliment aus der Chemo-Zeit.

 

Wer gewinnt Miss-Cortisongesicht, wer war die längste Zeit im Krankenhaus, wer hatte die blödesten Ärzte und wer hat sich am häufigsten übergeben?

 

Was ich sagen will ist, dass wir vielleicht einfach mal dazu stehen sollten, WAS Fassade ist. Und WAS echt. ("Liebe Kinder, es spricht absolut NICHTS dagegen Wunschzettel zu schreiben, Gedichte auswendig zu lernen und am Weihnachtsabend gespannt zu sein. Nichts. Viel Spaß. Trotzdem denke ich, dass Ihr alt genug seid, es zu erfahren: Der Typ dort mit dem künstlichen weißen Bart ist Herr Meyer. Eure Eltern haben ihn bezahlt, damit er hier im Kostüm auftaucht und Euch die Geschenke bringt. Weil SIE Euch eine Freude machen wollten. SIE haben die schönen Geschenke ausgesucht. SIE lieben Euch. Herrn Meyer seid Ihr völlig wurscht, der geht von den 20,00 Euro nachher in die Kneipe..." )

 

Mädels, Ihr sehr BLENDEND aus, ehrlich. BLENDEND!!! Ihr habt den Schönheitswettbewerb gewonnen!!!

Und Eure Berichte lesen sich wie "Gullivers travels" (nächste Reise ins Land der Einhörner?). Und wenn wir noch einen "Wer hat das coolste neue Leben?" Wettbewerb starten, gewinnt Ihr den auch gleich noch.

 

Und ich bin letzte in diesen Wettbewerben.  Weil keine coolen Fotos mit Einhorn. Keine Bilder, zu denen die Leute "Du siehst gar nicht krank aus" sagen und kein Blog, dass sich liest, als sei das alles ne Kleinigkeit gewesen.

 

Ich hab nichts als vollgeheulte Taschentücher, deprimierende blogposts, zig hirnlose geguckte Serien, Stunden sinnlos aufs Handy gestarrt und mich schlecht gefühlt. Ich habe NICHTS vorzuweisen.

 

 

Und wenn Ihr jetzt denkt, das sei ne ziemlich deprimierende Bilanz, dann gebe ich Euch recht. Klingt schlecht, nicht wahr? Und dann ist mir etwas klageworden. 

 

Ganz unten.

 

Unter den Taschentüchern, den doofen Serien, den Stunden am Handy und dem Teufelskreis aus Magentabletten und Schokolade, da habe ich noch etwas entdeckt, das in die Bilanz gehört:

 

Ich weiß wieder, wie ich mich fühle - auch wenn die Antwort nicht sehr enthusiastisch ausfällt.

Ich habe herausgefunden, was ich möchte - auch wenn es nicht das ist, was unsere Optimismus-Gesellschaft sich wünscht.

 

Die Antwort ist sehr banal:

Wenn ich im Bett liege und heule, doofe Serien gucke oder stundenlang auf Handy / Wände oder Bildschirm starre, dann tue ich DAS was ICH möchte und was MIR in dem Moment gut tut, auch wenn das weder produktiv ist, noch auf Fotos hübsch aussieht.

 

Anders ausgedrückt: Ganz unten. Unter Heulen, fluchen, jammern und an die Wände starren, habe ich jemanden kennengelernt. -

 

MICH.

 

Und diese Person gewinnt keine einzige Misswahl. Und sie war noch nie beim Bungee-Jumping, hat keine Einhornfotos und auch sonst nichts großartiges vorzuweisen.

 

Das liegt ihr nicht.

 

Sie schreibt dafür gern düstere Texte. Sie erträgt gern unbequeme Wahrheiten. Sie starrt der Angst lieber ins Gesicht, als zu behaupten alles sei prima. Sie guckt gern BBC Krimiserien, trinkt gern heißen Kakao und fährt gern Fahrrad. Sie ist furchbar müde, furchtbar ratlos, furchtbar kraftlos und sie hat jeglichen letzten Rest von "Reiß-Dich-zusammen" in der Chemo verfeuert. 

 

Mädels, Ihr könnt die Titel bei den Miss-Super-Cancer-Wahlen haben, ich trete nicht an.

 

Wer mich so nicht sehen will, der gucke halt weg, wer das nicht lesen will, der liest halt was anderes und wer das alles gar nicht wissen will, der sage nicht, ich hätte ihn nicht gewarnt.

 

Ich wäre lieber zum Orakel nach Delphi ("Erkenne Dich selbst") gefahren um mich kennen zu lernen, offen gesagt, kann ich die Methode zum Zweck der Selbsterkenntnis ne Chemo zu machen nicht empfehlen. Funktioniert hat sie wie es aussieht trotzdem.

 

"Ein Jahr nach Chemo, Ugin, wie geht es Dir?"

 

"Ich bin traurig, wütend, ratlos, hilflos, ängstlich, kraftlos, unmotiviert, unkonzentriert, mir ist zum heulen und ich weiß nicht was werden soll. Aber wenn man mich vor einem Jahr gefragt hätte, hätte ich zwar coole Projekte gehabt. Aber die Antwort auf diese Frage hätte  'Ich weiß es nicht' gelautet."

 

Ein Jahr nach der letzten Chemo und ich weiß wieder wie ICH mich fühle. Weiß wieder, was ICH denke. Versuche nicht Super-Ugi zu sein sondern bloß little-old-me.

 

Ein Jahr nach Chemo. Zu behaupten es ginge mir gut, wäre gelogen. 

 

Aber ich bin wieder ich. Und MICH gibt's schließlich nur einmal. Und das Foto vom Orakel in Delphi kann ja auch jemand anderes posten... Jemand dem gerade reisen und fotografieren  gut tut. Schließlich können wir wohl nicht alle heulen und rumliegen wollen... 

 

Wie es mir geht? - Danke. Ich glaube gerade tatsächlich, MIR geht es besser...

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Kommentare: 1
  • #1

    Eule Nr. 1 (Freitag, 15 September 2017 17:28)

    Schöner Post! Glückwunsch meine Liebe. Zu deinem Kennenlernen, deinen Wünschen und deinen Einsichten. Ich drück dich feste...